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Präsidentschaftswahl in Südkorea
Misstrauen vor dem Machtwechsel

Lee Jae-myung, der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei Koreas, wirbt bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Yongsan Station Plaza in Seoul, Südkorea, um die Unterstützung der Öffentlichkeit

Lee Jae-myung, der Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei Koreas, wirbt bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Yongsan Station Plaza in Seoul, Südkorea, um die Unterstützung der Öffentlichkeit.

© picture alliance / NurPhoto | Chris Jung

Sollte der progressive Kandidat Lee Jae-myung wie erwartet Südkoreas Präsidentschaftswahl gewinnen, steht er vor der schwierigen Aufgabe, ein tief gespaltenes Land zu einen. Viele Südkoreaner und Südkoreanerinnen haben Vorbehalte. Auch Partner im Westen sind skeptisch.

Südkoreas Wahlkampf ist kurz, aber intensiv. Um sieben Uhr morgens stehen Wahlkampfhelfer an Straßenkreuzungen, um Berufspendler von Kandidaten zu überzeugen. Noch in der Dunkelheit rufen Wahlkämpfer ihre Parolen von Lautsprecherwagen – eine lebendige Demokratie.

Sechs Monate zuvor hatte Südkorea ein ganz anderes Bild abgegeben. Im Dezember rief Ex-Präsident Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht aus, wegen angeblicher Unterwanderung des Staates durch nordkoreanische und pro-chinesische Kräfte. Beweise legte Yoon nicht vor. Militärhubschrauber landeten vor dem Parlament. Soldaten riegelten das demokratische Herz Koreas ab. Weil Abgeordnete sich dennoch Zutritt verschafften und gegen das Kriegsrecht stimmten, währte der Spuk nur ein paar Stunden. Doch das politische Beben hallt immer noch nach. Auf die Kriegsrechtnacht folgten Amtsenthebung, Massenproteste, politisches Chaos und nun, am 3. Juni, Neuwahlen.

Klarer Favorit ist Lee Jae-myung, der Kandidat der progressiven Demokratischen Partei Koreas (DPK). Umfragen sehen ihn weit vorne. Dem Gegenkandidaten Kim Moon-soo von der konservativen People Power Party (PPP) werden kaum noch Chancen eingeräumt. Ein Grund ist die Spaltung des konservativen Lagers. Dort glaubt ein rechter Rand an eine kommunistisch unterwanderte Republik, moderatere Stimmen nicht.

Der Nominierungsprozess der Konservativen war umkämpft und verlief chaotisch. Kandidat Kim, der sich gegen moderatere Stimmen durchsetzte, gilt als enger Vertrauter des entmachteten Präsidenten, von dem er sich trotz dessen Kriegsrecht-Ausrufung nicht eindeutig abgrenzte. Nun muss Kim nicht nur die extreme Rechte mobilisieren, er muss auch die Mitte umgarnen - ein fast unmöglicher Spagat.

Damit nicht genug. Es gibt noch einen weiteren Kandidaten, der um konservative Stimmen wirbt: Lee Joon-seok, Gründer der Reform Party. Er hat keine Siegchance, aber er wird einen beträchtlichen Teil der moderat-konservativen Stimmen wegnehmen. Eine Zusammenarbeit mit Kim lehnt Lee bisher ab - was das konservative Lager noch weiter schwächt.

Kontroverser Favorit

Über die Probleme der Konservativen freut sich der politische Gegner: die Progressiven. Deren Kandidat Lee Jae-myung hat es im Wahlkampf leichter. Der Parlamentarier inszeniert sich als Verteidiger der Demokratie und hat dafür auch die nötigen Bilder. Als er in der Nacht des Kriegsrechts über einen Parlamentszaun kletterte, um drinnen gegen Panzer und für Demokratie zu stimmen, filmte er sich selbst und streamte seine Aktion live auf seinen Social Media Accounts.

Immer wieder kritisiert Lee im Wahlkampf die nicht eindeutige Haltung des konservativen Lagers zu Ex-Präsident Yoon und dessen Bilanz. Der progressive Lee positioniert sich als Kandidat der Einheit. Denn letztlich werden Wahlen in Südkorea – trotz der starken Polarisierung an den Rändern – in der Mitte gewonnen. Lee spricht davon, „ein großes Zelt zu bauen“, unter dem sich ein breites gesellschaftliches Bündnis versammeln soll.

Lee stammt aus armen Verhältnissen und hat sich als Lokalpolitiker ein Macher-Image erarbeitet. Er wird insbesondere in der Arbeiterschaft und unter intellektuellen Linken geschätzt. Ob er ein zutiefst polarisiertes Land wirklich einen kann, ist fraglich. Auch Lee ist umstritten, auch er polarisiert. In der Vergangenheit schürte er antijapanische Ressentiments und zeigte sich innenpolitisch kompromisslos. Unter seiner Führung blockierte die DPK jedes Gesetzesvorhaben der konservativen Regierung. Allerdings: In den vergangenen Wochen hat Lee merklich den Ton gewechselt und ist inhaltlich stärker in die politische Mitte gerückt.

Viele Wähler und Wählerinnen bleiben misstrauisch - nicht zuletzt wegen privater Skandale und fünf laufender juristischer Verfahren. Als Bürgermeister der Stadt Seongnam soll Lee sich unter anderem der Korruption und der Veruntreuung schuldig gemacht haben. Ein weiterer Vorwurf lautet, dass er in eine illegale Zahlung von Millionenbeträgen einer Unterwäschemarke an Nordkorea verwickelt gewesen sei, um in die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang eingeladen zu werden. Lees Gegner beschimpfte ihn im Wahlkampf als „Gangsterboss”.

Am weitesten fortgeschritten ist ein Verfahren wegen Falschangaben im Präsidentschaftswahlkampf 2022. Lee wurde bereits verurteilt, doch er legte Berufung ein. Das endgültige Urteil wird wohl erst nach der Wahl fallen – wenn Lee möglicherweise schon Präsident ist. Ob er dann Immunität genießt, ist juristisch umstritten. Das Thema wird die Öffentlichkeit weiter beschäftigen.

Laut einer Umfrage des Online-Mediums Dailian würden mehr als 42 Prozent der Bevölkerung keinesfalls Lee wählen. Dass der Progressive die kommende Präsidentschaftswahl wahrscheinlich trotzdem gewinnen wird, liegt auch an der Zerrissenheit seiner Gegner. Zudem scheint es so, dass viele Wähler den Konservativen für das Kriegsrecht-Desaster einen Denkzettel verpassen wollen.

Sollte Lee tatsächlich Präsident werden, wird er über eine parlamentarische Mehrheit seiner Partei verfügen. Im Gegensatz zu Ex-Präsident Yoon, der im Parlament regelmäßig blockiert worden war, könnte Lee mit deutlich mehr Gestaltungsfreiheit regieren. Sein konservativer Kontrahent Kim warnt bereits übertrieben vor einem „totalitären Regime“, in dem Legislative, Exekutive und Judikative in der Hand einer Partei wären.

Inhalte spielen untergeordnete Rolle

Der Wahlkampf ist – wie so oft in Südkorea – von persönlichen Angriffen geprägt. Wenn es um Inhalte geht, dann meist um die Wirtschaft. Die Lage ist angespannt. Für dieses Jahr erwarten Ökonomen nur ein Wachstum von rund einem Prozent. Die politischen Krisen haben das Vertrauen der Konsumenten beschädigt, Exporte leiden unter der aggressiven Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump. Langfristig bremst die Alterung der Gesellschaft die Wirtschaft. Nirgendwo auf der Welt bekommen Frauen weniger Kinder als in Südkorea – im Schnitt nur 0,75 Kinder pro Frau. In Deutschland, auch nicht gerade kinderreich, ist die Quote fast doppelt so hoch.

Lee will die lahmende Konjunktur mit staatlichen Investitionen ankurbeln, vor allem im Bereich Künstliche Intelligenz und in strukturschwachen Regionen. Die wirtschaftliche Dynamik konzentriert sich stark auf die Metropolregion Seoul, wo Immobilienpreise explodieren. In der Energiepolitik will Lee keine weiteren Atomkraftwerke mehr bauen und stattdessen auf erneuerbare Energien setzen. Aus der Kohleverstromung soll Südkorea nach seinem Wunsch bis 2040 aussteigen. Zudem will er die Arbeitnehmerrechte stärken.

Kim plädiert dagegen für Deregulierung und Steuersenkungen – ein klassisch wirtschaftsliberaler Kurs, wie ihn auch Präsident Yoon vertreten hatte. In der Energiepolitik setzt er auf Atomkraft. Doch egal, wer gewinnt: Eine Revolution in der Wirtschaftspolitik ist nicht zu erwarten. Beide Lager sind prinzipiell wirtschaftsfreundlich und bemühen sich, den großen Industriekonzernen des Landes – wie Hyundai oder Samsung – stabile Rahmenbedingungen zu sichern.

Ein Freund Russlands und Chinas?

In der Außenpolitik könnte es unter Lee zu einer leichten Kursänderung kommen. Präsident Yoon hatte Südkorea deutlich näher an die USA und die NATO herangeführt, die Beziehungen zu Japan verbessert und sich klar gegen Russland positioniert. Südkorea schloss sich westlichen Sanktionen an, unterstützte die Ukraine finanziell und mit nicht-tödlichem Material – und wurde über ein Dreiecksgeschäft mit den USA indirekt zu einem der wichtigsten Munitionslieferanten für Kiew.

Lee hingegen stellt diese klare Westbindung in Frage. Zwar betont auch er die Allianz mit den USA als sicherheitspolitisches Fundament. Gleichzeitig verweist er aber auf die Notwendigkeit, das Verhältnis zu China und Russland zu stabilisieren. Er beruft sich auf die sogenannte Nordpolitik des konservativen Präsidenten Roh Tae-woo in den 1990er-Jahren, inspiriert von der deutschen Ostpolitik Willy Brandts. Damals nahm Südkorea diplomatische Beziehungen zu Moskau und Peking auf – auch, um Bewegung in den Dialog mit Nordkorea zu bringen.

Annäherung an Nordkorea

Der progressive Lee argumentiert, dass die aggressive Linie des konservativen Ex-Präsidenten Yoon gegenüber Pjöngjang gescheitert sei. Außerdem habe die Unterstützung der Ukraine Russland verärgert – was nun dazu führe, dass Moskau enger mit Nordkorea kooperiere. In Wahrheit hat Russland vor allem einen willigen Munitionslieferanten gesucht.

Auch gegenüber Japan wird sich Lee als Präsident womöglich pragmatischer zeigen als in seiner Oppositionszeit. Die Annäherungspolitik von Ex-Präsident Yoon kritisierte er als ehrabschneidend und unterwürfig, um bei den Parlamentswahlen Stimmen zu fischen. Doch verfängt die Masche immer weniger. Viele junge Südkoreaner zeigen heute deutlich weniger Interesse an einer konfrontativen Haltung gegenüber Japan. Zudem ist die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Tokio angesichts der Bedrohung durch Nordkorea und China von wachsender Bedeutung. Zuletzt gab sich Lee auch hier deutlich moderater.

Lee plant eine Annäherung an Nordkorea. Ob das aufgeht, liegt nicht in seinen Händen – Nordkorea muss auch Interesse zeigen. Derzeit sind die Beziehungen auf einem Tiefpunkt. Während Yoons Präsidentschaft hat Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un das Ziel einer friedlichen Wiedervereinigung offiziell aufgegeben und Südkorea stattdessen als „Hauptfeind” gebrandmarkt. Angesichts der Unterstützung aus Russland hat Nordkorea derzeit keine Notwendigkeit für Kontakte zu Südkorea oder Amerika. Zuletzt dämpfte auch Lee die Hoffnung auf eine Annäherung. Zwar solle ein Gipfel zwischen Süd- und Nordkorea rasch stattfinden – doch in der aktuellen Situation sei das kaum möglich.

Frederic Spohr leitet das Büro der Stiftung in Seoul.
Zeynep Gezen absolviert dort derzeit ein Praktikum und studiert Koreanistik an der FU Berlin.